JOHANNA      ZEUNER
ev.Theologin   pädagogin   autorin

Examenspredigt

6/2001 zu Lk 7,36-50 

 



Liebe Gemeinde,

                           eine Träne rollt durchs Leben,

                           sie kann sich nicht mehr halten

                           sie sucht Halt bei Gott.

Schon als sie, die Stadtbekannte, ihn suchen ging, begann sie zu rollen. Und als sie ankam, war es passiert ... ihre Träne zu Jesu Füssen. Der heutige Predigtext gibt gute Nachricht davon:                                Lk 7,36-50.

Liebe Gemeinde, der Wecker klingelt, die Nacht war lang. Da draußen hört sie Stimmen, laut und hartherzig. Sie wird hellhörig : Sie sagen seinen Namen und sie erinnert sich ...Und dann ist sie losgegangen. Sie hat ihn überall gesucht.Man sagte, mit den Sündern säße er zu Tisch. Im Haus eines Pharisäers hat sie ihn dann gefunden. Aber das ist egal jetzt, denn: atemlos betritt sie den Raum. Sie sieht, sie hört nichts mehr, sie fühlt nur noch: Alles fließt.

Eine andere Geschichte: Eine Frau betritt ein ev. Gemeindebüro. Sie sucht Hilfe, dringend. Sie braucht Auskunft – über einen Tauftermin. Ihr Kind muss getauft werden, jetzt, in diesem Sommer. Dies ist der „der Sommer ihrer Gnad“. Das hofft sie. Und dann erzählt sie, warum, schüttet ihr Herz aus: Was alles passiert ist in letzter Zeit in ihrem Leben. In ihrem Gesicht kann man davon lesen. „Da brauche ich es einfach“, sagt sie, „dieses Ereignis, diese Taufe“. Eine Kraft gehe davon aus, ist schon vorausgegangen, denn sonst wüsste sie nicht darum, in ihrem Leben.

Zwei Geschichten von Menschen, die suchen. Die Hilfe suchen. Und sie ahnen fest und wissen fast, in wessen Namen ihr Leben steht.

Und wir? Wo unsere Hilfe wohnt? Ob wir noch wissen, wohin die Träne rollt? Die Frau ohne Namen jedenfalls, sie ist bei ihm angekommen.

Alles fließt. Wie im Traum. Aber sie weiß, was sie tut. Sanftes Salben. „Was ich bin und habe, soll dein eigen sein.“ Ausfließende Liebe. Sie kniet. „In deine Arme schließe fest mich ein.“ Das Parfüm erfüllt den Raum. Sie öffnet ihr Haar.

„Wenn der wüsste ...“ Sie hört bestimmte Stimmen, im Hintergrund, sie hört, wie sie es sagen: „liederlich“. Aber an ihr geht das jetzt alles vorbei. Selbstvergessen, aus Scham hatte sie das getan. Ihre Tränen hatten seine Füße berührt. Ungeschehen will sie das nun machen, mit ihrem eigenen Haar. Als will sie sagen: „Kommt nicht wieder vor.“ „Schnell weg da, weg da, weg“ [1]  Und dann ist es, als ob er mit ihr spricht:

„Wo kommst Du her -wo gehst Du hin, Frau?“ Der Raum weitet sich. Und sie antwortetet – schnell und flüchtig

                                                        „Mach wieder Wasser aus mir

                                                         Strömen will ich im Strom

                                                         Ins Meer münden“[2]

Denn: sie will nicht reden über sich, sie ist sich und ihre Sache  satt. „Ein herzliches Missfallen“[3]  hat sie an ihrem Leben.

Doch er, der Mann aus Nazareth, findet Gefallen an ihr. Gerade hier. Wo sie Liebe doch nur mimen. In diesem ehrenwerten Haus. Zum Essen ist er zu Gast. Er hat die Einladung angenommen, derer, die in ihrem Dunkeln munkeln, auch über ihn. Und nun dies: Eine peinliche Situation? Ein Lehrstück, wie er findet, und er holt weit aus:

                     „Siehst Du diese Frau, Simon?“

Er spricht mit ihm und wendet sich zu ihr. Er spricht einen Segen auf dies Leben.

„Und Du? Du hast mich nicht begrüßt. Du hast Dich nicht aufgemacht. Dein skeptischer Blick nimmt Dir den Glauben. Deine Welt wird enger mit jedem abschätzigen Blick. Merkst Du das nicht, Simon: So bleibt dein Gott klein!“

Simon hält inne – für einen Moment. Er spürt, diese Letzte, dieses Freudenmädchen aus der Stadt meint es ernst Sie hat eine Ahnung von dem, von dem auch er dachte, er sei ein Prophet. „Lehrer, es ist nicht Recht, was Du tust. Diese Frau hat viele Sünden. Ihr Leben ist nicht rein wie Rosenstaub.“ Aber Jesus fährt fort. „Warum lebst Du so, Frau?“ Und dann erzählt sie. Vor den Augen des Gesetzes. Da rollt eine Träne und mischt sich mit dem wohlriechenden Öl.

                    Angenehme Spezerei

                    Salbung seiner staubigen Füße

Sie hat darüber nachgedacht:„Sein Weg ist es wert und noch weit. Und er hat schon begonnen, wie sie reden auch über ihn...“

Der Gesalbte, der Geliebte. Oder: Ihr Fließen und sein Blutvergießen.

Langsam beginnt es in ihr zu singen, eine ganze Arie über sie und ihn, ihren Heiland „Buß und Reu knirscht das Sünderherz entzwei, dass die Tropfen meiner Zähren meines Jesu Freude werden“[4].

Über diese Tränen ist viel spekuliert worden Tränen der Reue, der Angst, der Scham, der Freude oder vorweggenommene Trauer. Egal. Alles gerät hier durcheinander, mischt sich. Weinendes Parfüm. Die Lebens- und Liebes-Fälle der „großen Sünderin“, sie schwimmen dahin im Angesicht Jesu.

Doch plötzlich schaut sie auf, löst sich der Schleier aus Tränen und verlorener Zeit. „Mein Herr und mein Gott.“ (Joh 21,28) Sein Blick ist warm und weit wie ein bergender Mantel, der sie beschützt, mitten in dieser sterilen Pharisäerzeit. „Du hast angesehen die Niedrigkeit deiner Magd“ (Lk 1,48) summt sie leise.

Sie gibt, weil er sie liebt. Ein Kuss, viele. Die „große Dankbare“ hat man sie auch genannt. Sie erkennt, hat schon erkannt, wer ihr Leben liebt – vor aller und ihrer Zeit; wo ihr Leben eine Bleibe hat, und ihre Träne einen Raum. „Meister, sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Sie liegt vor ihrem Gott. „Ich stehe hier, ich kann nicht anders“, ich, die, von der alle Welt weiß ...     

                        Jesus schweigt.

Seiner selbst satt sein, Irrungen und Wirrungen des eigenen Lebens, sich verkaufen, verlaufen, verlieren oder ein Urteil sprechen ohne echten Grund, über einen fremden Menschen. Das kenne auch ich. Ich kenne Simon. Ich kenne diese Frau – allzumal Sünder beide.

Was ich brauche? Was mir fehlt? Das, was diese Frau hat: Vertrauen, Vertrauen in die Gnade Gottes, die nicht billig ist. Das ist ihre Größe und ihr Mut: sie hat Gott im Ohr wie einen Schlager:

                    „So ist Versöhnung, so soll der wahre Friede sein, so ist Versöhnung,                         

                    so ist Vergessen und Verzeihen“,   den sie schon lange kennt.

Aber lassen sie uns zurück gehen in diese Szene in jenem ehrenwerten Haus: Jesus bricht das Schweigen. Er bricht ihr Schweigen. Unglaublich dieser Satz: Er sagt, was sie kaum fassen kann. Er sagt es ihr auf den Kopf zu:

                                                   „Deine Sünde – Aus und vorbei – Jetzt :   Du!“

Er schaut dabei nicht auf ihre nackten Füße und nicht auf ihr verweintes Gesicht

                                                 „Herr Jesu Gnaden Sonne“.

Ohne Ansehen der Person geschieht dieser Zuspruch.„Der hernieder schaut in die Tiefe“

(Ps 113, 6) spricht:

„Deine Sünden sind dir vergeben, geholfen hat dir dein Glaube, gehe hin in den Frieden des Herrn“ (Lk 7, 48;50).

Er nimmt von ihr,

was auf ihr lag:

Auf ihren Schultern.        In ihren Augen.         Auf ihrem Gesicht

                                       Nun schweigt sie wieder, und mit ihr Angst und Klage.

                                       Und sie begreift es von Neuem, von vorn:

Gott legt unser Leben frei.:

Die wahren warmen Farben kommen hervor.

Wiederhergestellte Dokumente unseres Lebens.

Jesus voll Macht.

                                       Die Taufrische der Gnade Gottes

                                       umgibt sie,

                                       sie atmet auf

Und wir, liebe Gemeinde? Vielleicht haben wir hier eben gesehen: Tränen können verwandelt werden. In Freude sogar, in ein Lied. Die Frau, von der ich zu Anfang sprach, wird ihr Kind mittlerweile zur Taufe gebracht haben. Vielleicht geht es ihr besser jetzt. Vielleicht war dieser Sommer tatsächlich der Sommer ihrer Gnad.

Die Taufrische der Gnade Gottes, sie ist auch in unsere Wiege gelegt. Wir sind aus der Taufe gehobene, herausgehoben aus dem, was auf uns liegt und manchmal schwer wiegt.

Gott hat uns erleichtert. Von Anfang an. Leben wir in alter Tauffrische jeden Tag neu.

Die Zusage gilt: Deine Sünden sind dir vergeben, geh – ins Leben.

Die Frau zu Jesu Füßen steht auf, nimmt ihr Bett und singt.

Denn: Ihre Tränen sind verflogen

          in seinem Licht.

          Eins weiß sie:

          vergessen wird sie ihn nie,

          ihre erste Liebe.                                               Shalom.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen in Jesus Christus, unserm Herrn. Amen.

 

Johanna Zeuner



[1] H. van Veen, Signale, 1984.

[2] R. Ausländer, Im Atemhaus wohnen,Frankfurt 1981.

[3] Luther, Hauspostille, 1189.

[4] Matthäuspassion, J.S. Bach, BW 244,6.